Die Gothic-Rockband hat sich mit “Blood & Glitter” beim deutschen ESC-Vorentscheid gegen sieben weitere Acts durchgesetzt. Klar war diesmal: Mainstream unerwünscht!
Die deutschen Fans hatten im Vorfeld zwei Favoriten: Die Gothic-Band Lord of The Lost und den Party-Schlagersänger Ikke Hüftgold. Beide wurden vom deutschen Publikum für ihre Originalität gefeiert – etwas, was in den vergangenen Jahren bei der ESC-Auswahl deutscher Acts schlichtweg fehlte.
Lord Of The Lost – oder kurz LOTL – fackelten mit ihrem Song “Blood & Glitter” buchstäblich die Bühne ab. Das durften sie auch genüsslich tun, denn sie waren der letzte Act an diesem Abend. Die Gothic-Band aus Sankt Pauli war bereits mit Iron Maiden auf Tour und ist schon bei einschlägigen Festivals wie “M’era Luna”, “Summer Breeze” oder Wacken aufgetreten.
Die Musiker gewannen mit einem deutlichen Vorsprung vor den beiden Zweitplatzierten: Ikke Hüftgold (bürgerlich: Musikproduzent Matthias Distel) kam über ein TikTok-Voting in diese Teilnehmerrunde und lieferte einen Partyschlager in deutscher Sprache ab, der bei der internationalen Jury auf Unverständnis stieß, durch die Stimmen des deutschen Publikums aber den zweiten Platz erreichte. Die gleiche Gesamtpunktzahl erhielt der Liebling der Jury: Will Church, ein Singer-Songwriter, der mit seiner großartigen Stimme und einem starken Lied überzeugte, aber in der Gunst des deutschen Publikums nicht ganz so hoch stand.
Und wieder ein neues Auswahlverfahren
Die Publikumsstimmen und die Stimmen der acht Jurys aus acht verschiedenen Ländern machten jeweils die Hälfte der Punktzahl aus. Beim diesjährigen Ergebnis zeigte sich, dass der Geschmack anderer Länder nicht unbedingt den Geschmack des deutschen Publikums trifft – so hatten weder LOTL noch Ikke Hüftgold bei den internationalen Jurys gute Platzierungen, wohl aber die Popsongs der anderen Bewerberinnen und Bewerber.
Jedes Jahr wird vom verantwortlichen Fernsehsender NDR am Votingsystem des Eurovision Song Contest gefeilt, und im Laufe der Zeit wurde das Verfahren immer komplizierter. Diesmal aber war es einfach: Es gab die Publikums- und die Jurystimmen und beide hatten gleich viel Gewicht. Und so zeigte sich deutlich, was schon lange klar war: Die deutschen ESC-Fans wollen etwas Besonderes und keine seichten Popsongs von unbekannten Nachwuchstalenten.
Ist das große Gähnen jetzt vorbei?
In den vergangenen Jahren war der ESC für Deutschland im Großen und Ganzen ein Fiasko. Das Publikum brach beim deutschen Act stets in großes Gähnen aus. “Germany, sorry, zero points” wurde zum geflügelten Wort und zum Synonym für das schlechte Abschneiden Deutschlands bei dem Wettbewerb, der jährlich an die 200 Millionen Zuschauer vor die Bildschirme lockt.
Das könnte sich nun ändern. Denn Lord of The Lost haben durchaus Potenzial, den Fluch des letzten Platzes zu brechen. Laute Rockbands werden vom ESC-Publikum gerne gesehen – und manchmal gewinnen sie den Contest sogar, wie die finnischen Monsterrocker Lordi 2006 oder die italienische Rockband Måneskin, die seit ihrem ESC-Sieg 2021 eine beachtliche Weltkarriere hinlegt.
Finnland bislang haushoher Favorit
Nicht nur in den Wettbüros, auch in der Fan-Blase herrscht große Begeisterung für “Cha Cha Cha”. Der Song ist herrlich verrückt und trashig. Der Sänger Käärijä präsentiert in einem aberwitzigen Outfit einen Rap auf Finnisch, unterlegt mit einer Mischung aus EBM (Electric Body Music) und Metal. Besonders reizvoll ist der Stilwechsel nach zwei Minuten: Dann bekommt der Song plötzlich eine Melodie und wird zu einem fröhlichen Popliedchen, ohne seinen pumpenden Beat zu verlieren.
Norwegens Beitrag könnte der meistgestreamte Song der Vorentscheids-Saison auf Spotify werden. Sängerin Alessandra überrascht in ihrem kraftvollen “Queen Of Kings” gegen Ende mit einer unerwarteten Gesangseinlage und hat sich damit das Ticket für Liverpool ersungen.
Frankreich schickt mit La Zarra eine Chansonsängerin, die sich im Stil der 1940er Jahre präsentiert, der Song “Évidemment” jedoch hat mit seinem Elektrobeat eine ganz besondere Faszination und schlägt die Brücke zwischen Chanson und Dancefloor.
Spanien interpretiert Flamenco neu
Spanien präsentiert sich selbstbewusst mit einem klassischen Flamenco, neu interpretiert von der Sängerin Blanca Paloma. Sie singt das ursprüngliche Wiegenlied “Eaea” auf traditionelle Weise, das moderne Arrangement macht das Ganze zu einer spannenden Melange. Auch wenn der Gesang vielleicht etwas ungewöhnlich klingt – traditionelle Klänge stoßen beim ESC-Publikum immer auf Wohlwollen.
Die Ukraine schickt mit dem Duo Tvorchi einen Act nach Liverpool , der sich extrem vom ukrainischen Vorjahressieger “Stefania” (Kalush Orchestra) unterscheidet. “Heart Of Steel” hat nichts Traditionelles und ist nicht in Landessprache gesungen, sondern ist ein auf den internationalen Markt abgestimmter Popsong. Die Künstler betonen, dass sie sich vom Durchhaltevermögen des ukrainischen Volkes und insbesondere der Soldaten im Stahlwerk von Mariupol haben inspirieren lassen.
Vorentscheid in 100 Metern Tiefe
Der ukrainische Vorentscheid fand in der 102 Meter tiefen U-Bahn-Station am Maidan, dem zentralen Platz in der Hauptstadt Kiew, statt. Damit alle Künstlerinnen und Künstler sowie das Publikum und das Produktionsteam vor den russischen Bombenangriffen sicher waren, hatte man die Show in die Metrostation verlegt – und hin und wieder ratterte sogar ein Zug vorbei.
Tvorchi sind in ihrer Heimat bereits große Stars und wollen versuchen, den Titel des Vorjahres in Liverpool zu verteidigen. Aufgrund des russischen Angriffskrieges konnte der ESC 2023 nicht in der Ukraine stattfinden. Aus Sicherheitsgründen wurde der Wettbewerb nach Liverpool verlegt – das Vereinigte Königreich hatte im vergangenen Jahr den zweiten Platz belegt und bot sich sofort nach dem ESC-Sieg der Ukraine an, die Show zu übernehmen – in enger Zusammenarbeit mit der Ukraine.