Mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge hat Deutschland 2022 aufgenommen. Viele Kommunen fühlen sich überfordert – allerdings nicht alle.
Wenn Bielefelds Oberbürgermeister Pit Clausen gefragt wird, wie seine Stadt mit der Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen klarkommt, dann bleibt er entspannt. “Die Lage ist besser als Stimmung”, sagt der SPD-Politiker. Gut 340.000 Bürger wohnen in der nordrhein-westfälischen Stadt – und 4000 aus der Ukraine geflüchtete Menschen. “Eine Großstadt wie Bielefeld kann das gut verkraften”, sagt Clausen.
Mehr als die Hälfte der Geflüchteten wohne bei Verwandten und Bekannten, niemand müsse mehr in der Turnhalle leben. Die Kinder seien fast alle in Kita und Schule untergekommen. “Im Grunde hat das System alle erreicht und aufgenommen. Die ersten haben einen Job, und die ersten haben sich neu verliebt.” In anderen Kommunen sehe es aber zum Teil weniger gut aus. “Zur Wahrheit gehört auch, dass die Lage divers, also unterschiedlich ist”, betont der Oberbürgermeister.
Es läuft nicht überall rund
Neben mehr als einer Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge sind 2022 rund 244.000 Asylbewerber in Deutschland angekommen. Die Hauptherkunftsländer waren Syrien, Afghanistan, die Türkei und der Irak.
In Miltenberg, einem Landkreis in Bayern mit rund 130.000 Einwohnern, rechnet der grüne Landrat Jens Marco Scherf vor, dass er mehr Asylbewerber aufnehmen musste als bei der letzten großen Fluchtbewegung 2015. Die Leistungsgrenzen seien erreicht, mehr könne er nicht verantworten.
Dichtere Grenzen, mehr Abschiebungen
Seit dem Herbst müssten jede Woche ein bis zwei zusätzliche Unterkünfte angemietet werden, heißt es auf Anfrage der DW aus dem Landratsamt Miltenberg. Da es die kaum noch gibt, müssen viele Geflüchtete in Notunterkünften ausharren. Das Landratsamt beschreibt die Lage als “prekär”, und Scherf fordert Bund und Länder auf, “Zuwanderung zu begrenzen”.
Genau das hat die EU auf ihrem letzten Gipfel verabredet. Die Grenzen sollen dichter werden, wer keinen Anspruch auf Asyl hat, soll abgeschoben werden. Die Ukrainerinnen und Ukrainer betrifft das nicht, ihre Aufnahme ist weiterhin selbstverständlich.
Zu wenig Unterkunft und Betreuer
Aufnahme und Integration bedeutet mehr, als nur eine Wohnung zu finden. Die Ressourcen werden knapper, auch für die eigenen Bürger. “Wenn geflüchtete Menschen nicht mehr entsprechend untergebracht und betreut, Lehrer nicht mehr ihrem Lehrauftrag gerecht werden können, Erzieher fehlen, Turnhallen nicht mehr für den Schul- und Vereinssport zur Verfügung stehen – um nur einige Beispiele zu nennen -, dann ist das System schlichtweg überlastet”, heißt es aus dem Landratsamt Lindau in Bayern.
Rund 81.000 Einwohner hat die idyllisch am Bodensee gelegene Kreisstadt, die mit dem Slogan “Ganz schön nah am Paradies” für sich wirbt. Lindau ist eine von vielen Kommunen, die seit Wochen dringend mehr Hilfe vom Bund fordert.
Milliardenhilfen aus Berlin
“Wir lassen Sie nicht allein”, verspricht Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). “Der Bund hat die Länder und Gemeinden bei der Registrierung der Flüchtlinge unterstützt, und wie schon im Vorjahr greift der Bund den Ländern und Gemeinden auch in diesem Jahr mit Milliarden Euro unter die Arme, um die Ankommenden gut zu versorgen”, so Scholz im Bundestag.
3,5 Milliarden Euro hat der Bund 2022 zur Verfügung gestellt, in diesem Jahr sollen es 2,75 Milliarden sein. Finanzminister Christian Lindner (FDP) verweist für weitere Hilfen auf die Bundesländer. Die hätten inzwischen eine wesentlich bessere Entwicklung ihrer Einnahmen als der Bund und seien im föderalen Finanzgefüge “der starke Partner”, sagte Lindner dem “Handelsblatt”. Er sieht eines der Hauptanliegen des Flüchtlingsgipfels darin, einen Plan zu entwickeln, “wie wir irreguläre Migration nach Deutschland unterbinden und dafür sorgen, dass nicht Deutschland der bevorzugte Ort für Geflüchtete in Europa ist”.
Wer aus der Vergangenheit gelernt hat, profitiert
Im politischen Berlin wird auch registriert, dass nicht alle Kommunen mit der Flüchtlingsaufnahme überfordert sind. Doch woran liegt es, dass die Lage so verschieden ist? “Kommunen, die 2015 eine Infrastruktur aufgebaut haben, um mit Flüchtlingsströmen umzugehen, und diese dann nicht vollständig abgebaut haben, stehen jetzt besser da”, erklärt Hannes Schammann, Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim, der DW. “Die Kommunen, die diese Infrastruktur abgebaut haben, haben nun häufig ein Problem.”
Eine Aussage, die Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay bestätigen kann. “Nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine waren wir in der Lage, binnen weniger Tage Aufnahmekapazitäten in den Messehallen in Hannover für ukrainische Geflüchtete zu schaffen.” Insgesamt sei die Lage “herausfordernd”, aber “aktuell durch den kontinuierlichen Aufbau von Kapazitäten und tatkräftige Zusammenarbeit innerhalb der Verwaltung zu bewältigen”, so Onay auf Anfrage der DW.
Mehr private Unterkünfte?
Kapazitäten gibt es auch noch in den Immobilien, die der Bund im Herbst 2022 nach einem ersten Flüchtlingsgipfel mit Ländern und Kommunen zusätzlich zur Verfügung gestellt hat. Bislang sind rund zwei Drittel der insgesamt 4000 Plätze belegt. Allerdings mussten und müssen viele der Gebäude erst hergerichtet werden, weil sie lange leer standen und beispielsweise Strom und Wasser fehlten.
Einen Vorschlag, der die Situation entspannen soll, unterbreitete die migrationspolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Filiz Polat. Sie forderte in einem Interview im Deutschlandfunk, Asylbewerber und ukrainische Kriegsflüchtlinge bei der Unterbringung grundsätzlich gleichzustellen.
Asylbewerber dürfen sich ihren Aufenthaltsort nicht aussuchen, während Ukrainer auch privat bei Verwandten oder Bekannten wohnen können. Laut Polat haben etwa 30 Prozent der Geflüchteten in Deutschland Verwandte. Vor allem politisch Verfolgte aus der Türkei hätten häufig Familie in Deutschland.
Nachfrage bei den Kommunen: Wie sehr würde ein solcher Vorschlag tatsächlich entlasten? “Kaum”, heißt es aus Lindau. “Es ist nicht nur die Unterbringung, die die Kommunen belastet, sondern auch die Betreuung der Menschen.”
Nicht ohne Nachweis
In Miltenberg findet man den Vorschlag zwar grundsätzlich “bedenkenswert”, fordert allerdings den Nachweis von ausreichend Wohnraum. Es dürfe nicht passieren, dass jemand Verwandte bei sich aufnehmen wolle, der selbst nur einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft habe.
Hannovers Oberbürgermeister Onay unterstreicht diesen Punkt. Die niedersächsische Landeshauptstadt hat bereits Erfahrungen mit der dezentralen Unterbringung. “Leider scheitert das aktuell noch zu oft daran, dass der zur Verfügung stehende Wohnraum bei den Familienangehörigen dafür nicht groß genug und neuer bezahlbarer Wohnraum nicht zu finden ist.”
Schnellere Integration für alle
Bielefelds Oberbürgermeister Pit Clausen fände es gut, wenn die Asylbewerber nicht nur bei der Unterbringung, sondern in allen Belangen den Kriegsflüchtlingen gleichgestellt würden. Dazu gehöre auch, langwierige bürokratische Verfahren in den Ausländerbehörden zu entschlacken. Das, so Clausen, würde nicht nur die Kommunen deutlich entlasten. Alle Seiten würden profitieren. “Wir sind bescheuert, dass wir bei Flüchtlingen mit erster und zweiter Klasse fahren. Wir sollten die Sozialsysteme, die Bildungssysteme und alle Integrationsmöglichkeiten komplett für alle öffnen, die da sind.”