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Marburger Mit Wurzeln in Gaza: “Wir Haben Aufgehört Zu Zählen, Wie Viele Familienmitglieder Tot Sind”


Aladin Atalla hat Angehörige im Gaza-Streifen, sein Onkel arbeitete bis vor Kurzem als Arzt im Al-Schifa-Krankenhaus. Der Marburger berichtet im Interview über die Lage seiner Familie vor Ort und darüber, wie sie das Grauen in Nahost erlebt.

Die Bilder aus Gaza sind für Aladin Atalla mehr als bloß unangenehme Nachrichtenbilder. Er kann sie kaum aushalten. Atalla ist in Marburg geboren und deutscher Staatsbürger, er hat aber palästinensische Wurzeln und hat selbst einige Jahre als Kind in Gaza gelebt. In Marburg arbeitet er als App-Entwickler. Lange Jahre engagierte er sich auch im Marburger Ausländerbeirat.

Atalla berichtet: Noch immer seien zahlreiche seiner Familienangehörigen in Gaza. Sie seien auf der Suche nach Schutz und benötigten dringend Zugang zu Nahrung und Wasser. Mehrere Angehörige seien inzwischen auch ums Leben gekommen. Sein Onkel, der bis vor gut einer Woche als Gefäßchirurg im Al-Schifa-Krankenhaus arbeitete, das mittlerweile als “Todeszone” gilt, sei inzwischen nach Ägypten ausgereist.

Atallas Familie sei zwar inzwischen weitgehend von Telefon und Internet abgeschnitten. Am Wochenende habe er jedoch mit seiner Großmutter vor Ort sprechen können.

hessenschau.de: Herr Atalla, nach dem, was Sie noch mitbekommen: Wie ist die Situation Ihrer Familie gerade?

Aladin Atalla: Meine Familie ist momentan sehr verstreut. Als der Norden evakuiert wurde, sind die meisten in den Süden geflohen, nach Chan Yunis. Aber es gibt dort inzwischen keinen Platz mehr, die Zustände sind katastrophal. In einer Wohnung sitzen dort 60 bis 70 Menschen.

Es gibt wohl noch Zeltplätze, aber nicht genug Zelte. Und auch im Süden gibt es Aufrufe des israelischen Militärs, die Gegend zu verlassen. Einige Familienangehörige sind deshalb mittlerweile wieder in den Norden oder die Mitte von Gaza zurückgekehrt.

hessenschau.de: Ihre 85-jährige Großmutter ist für Sie eine sehr wichtige Person, Sie haben einige Jahre bei ihr gelebt. Wie geht es ihr?

Aladin Atalla: Es fehlt ihr an der Grundversorgung: Wasser, Nahrung, Medikamente. Auch sie ist am Anfang des Kriegs in den Süden geflüchtet. Aber das Haus, in dem sie Schutz gesucht hat, wurde bombardiert. Sie konnte Gott sei Dank aus den Trümmern herausgeholt werden. In der Zwischenzeit wurde auch ihr Haus im Norden bombardiert.

Trotzdem ist auch sie inzwischen wieder zurück Richtung Norden gegangen, weil es im Süden auch nicht sicher ist und sie gesagt hat: Dann sterbe ich lieber in einem Haus als irgendwo im Zelt. Sie ist jetzt bei meinen Tanten untergekommen.

hessenschau.de: Der Gaza-Streifen ist nur etwa 45 Kilometer lang, zwei Millionen Menschen leben auf engem Raum. Wie kann man sich so eine Flucht innerhalb Gazas vorstellen? Laufen Ihre Verwandten von Ort zu Ort oder fahren sie?

Aladin Atalla: Ganz verschieden. Am Anfang sind viele noch Auto gefahren oder wurden mitgenommen. Inzwischen sind aber viele Wege zerbombt und Autos kommen nicht weiter. Also müssen die Menschen laufen. Sie versuchen, Straßen mit Panzern oder Soldaten zu umgehen. Aber das ist schwierig. Und meine Verwandten wissen auch gar nicht mehr, wohin sie überhaupt gehen sollen. Das heißt, meine Familie ist in einer hochgefährlichen Situation und steht unter großem psychischen Druck.

hessenschau.de: Sie haben inzwischen auch Angehörige verloren.

Aladin Atalla: Wir können die Zahl der Familienmitglieder, die gestorben sind, mittlerweile gar nicht mehr nennen. Ab 30 haben wir aufgehört zu zählen. Es müssten 40 oder mehr Tote in der Familie sein. Wir wissen auch gar nicht mehr, wie wir das als Familie auffangen sollen. Einige Kinder sind als einzige Überlebende zurückgeblieben. Die ganze Familie hat wirklich ein großes Trauma erlitten.

hessenschau.de: Einige Ihrer Verwandten besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft, so wir Ihr Onkel. Er war bis vor Kurzem noch Arzt im Al-Schifa-Krankenhaus und wurde unter anderem in den Tagesthemen interviewt. Inzwischen konnte er mit seiner Familie ausreisen. Wie war es für ihn, aus Gaza rauszukommen?

Aladin Atalla: Die deutsche Botschaft hat ihm und seiner Familie bei der Ausreise geholfen. Ich finde aber, dass das zu lange gedauert hat. Sie konnten erst am 33. Tag nach Kriegsausbruch ausreisen. Ich bin der Meinung, Deutschland hätte mehr Engagement zeigen müssen, um diese Menschen früher ausreisen zu lassen.

Momentan ist mein Onkel in Ägypten, vermutlich kommt er bald nach Deutschland. Er weiß, dass er hier bei uns ein Zuhause hat. Er weiß, dass wir ihn aufnehmen wollen und können. Aber er ist gerade in so einer schwierigen Lage, dass ich ihn zu nichts drängen will. Er hat wahrscheinlich eine der schrecklichsten Zeiten seines Lebens hinter sich.

hessenschau.de: Sie selbst sind hier in Deutschland weit weg von all dem und in Sicherheit. Aber Sie sehen die Bilder aus Gaza. Sie hören Nachrichten von Ihrer Familie. Wie geht es Ihnen damit?

Aladin Atalla: Es tut einfach unglaublich weh. Hätte mich vor dem Krieg jemand gefragt: Was ist das Schlimmste, das deiner Familie in Gaza passieren könnte? Dann wäre meine Antwort klar gewesen: Dass jemand durch den Angriff getötet wird.

Mittlerweile habe ich gelernt, dass das doch nicht so ist. Meine Familie verdursten, verhungern, ohne medizinische Versorgung zu lassen – das ist das Allerschlimmste, was überhaupt geschehen konnte. Mitzubekommen, wie sich ihre Gesundheit jeden Tag verschlechtert und wie ihre Stimmen jeden Tag etwas leiser und dumpfer werden. Ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas in meinem Leben erleben würde.

hessenschau.de: Sie haben selbst Kinder. Wie behandeln Sie den Krieg in Ihrer Familie hier in Marburg?

Aladin Atalla: Wir versuchen, die Kinder so weit wie möglich davor zu schützen, so dass sie möglichst wenige oder gar keine Bilder sehen. Aber ich weiß nicht, was der richtige Umgang ist. Meine kleine dreijährige Tochter hat mich gefragt: Papa, warum hat die Oma nichts zu essen? Sind die arm? Es ist so schwer zu erklären, dass die Familie verdurstet, verhungert und wir nichts machen können.

Wir versuchen wirklich, keinen Hass, kein Feindbild zu schaffen. Aber wir kommen mittlerweile an unsere Grenzen damit, zu erklären, wer verantwortlich ist. Weil es auch einfach nicht mehr legitim ist, den Menschen diese Grundbedürfnisse der Humanität wegzunehmen. Es ist so traurig, dass mittlerweile unser Aufruf ist: Bitte, gebt denen Wasser. Mehr nicht. Frieden – das sollte ja eigentlich die Message sein.

hessenschau.de: Ihr Sohn geht schon in die Schule. Was raten Sie ihm im Umgang mit dem Thema?

Aladin Atalla: Wir haben ihm gesagt: Versuch nicht zu diskutieren, mach das Thema in der Schule nicht auf. Wir hatten Angst, dass die Lehrerin mit ihm diskutiert und dass er sich erklären muss. Aber ich glaube inzwischen, dass das der falsche Weg war.

Ich habe das Gefühl, dass er sich inzwischen innerlich sehr zurückgezogen hat, was mir auch wieder Sorgen macht. Ich will, dass mein Sohn sich mit dieser Gesellschaft identifiziert. Aber wenn er merkt: Ich kann mich gar nicht äußern, alles kann irgendwie falsch verstanden werden – dann empfinde ich das als krasse Spaltung.

hessenschau.de: Es gibt die Ansicht, dass die Hamas zivile Opfer bewusst in Kauf nimmt oder sogar provoziert. Zum Beispiel gibt es Berichte, dass Kommandozentralen oder Raketenabschussrampen in oder rund um Krankenhäuser, Märkte oder Schulen errichtet werden. Wie ist Ihr Blick darauf?

Aladin Atalla: Ich weiß, dass auf keinem der Häuser meiner Familienmitglieder, die durch israelische Bombardierung getötet wurden, eine Raketenabschussrampe oder ähnliches installiert war. Nicht in dem Haus meiner 95-jährigen, im Rollstuhl sitzenden Großtante und auch nicht bei meinem Großcousin, dessen ganze engere Familie vom Opa bis zum Enkel nicht mehr existiert.

hessenschau.de: In den Sozialen Medien sprechen Sie an, dass Ihnen hier in Deutschland teilweise mit wenig Mitgefühl begegnet werde, wenn Sie über Ihre Familie in Gaza erzählen. Wie sehen Sie denn die Taten der Hamas in Israel? Können Sie selbst für die Opfer Mitgefühl zeigen?

Aladin Atalla: Ich habe mich in letzter Zeit in dieser Hinsicht tatsächlich selbst kritisch hinterfragt. Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, Beileid zu bekunden, selbst wenn ich einen Konflikt nicht ganz verstehe oder es die “andere Seite” betrifft. Wenn unschuldige Menschen sterben, ist es immer angemessen, Beileid auszusprechen.

Und ich entschuldige mich bei allen, bei denen ich das in der Vergangenheit vielleicht nicht getan habe. Ich will das in Zukunft ändern. Obwohl das Leid der Palästinenser vor dem 7. Oktober von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde – und trotz der Besatzungssituation – gibt es für mich keinen Grund, jüdischen Mitmenschen nicht mein Beileid auszusprechen, wenn unschuldige Menschen gestorben sind. Das will ich hiermit tun.

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