Der Film “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt” von Rosa von Praunheim 1970/71 gilt als Auslöser der Schwulenbewegung in Deutschland. Doch bis zur weitgehenden Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ist es ein langer Weg.
“Ich habe einfach nur gemerkt: Das ist so. Und ich will mir nicht von jemand anders vorschreiben lassen, das sei irgendwas Strafwürdiges oder Schlimmes.” Ein junger Mann bekennt sich offen zu seiner Homosexualität – das war nicht selbstverständlich, als Thomas Grossmann 1971 sein Coming-out hatte. Er war damals Student und hat sich danach sehr in der Hamburger Schwulenbewegung engagiert.
Auch wenn heute vor allem die jungen Mitglieder der LGBT*IQ-Bewegung die Defizite sehen und beklagen – allein die Tatsache, dass und wie offen über sexuelle Selbstbestimmung diskutiert wird, wäre Anfang der 1970er-Jahre kaum denkbar gewesen. Auch wenn noch immer rund 70 Staaten gleichgeschlechtliche Beziehungen diskriminieren: Dass bekennende Homosexuelle heute in viele Ländern ganz selbstverständlich Bürgermeister und Minister sein können, dass an Rathäusern die Regenbogenflagge gehisst wird und dass sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in Deutschland ein anerkannter Asylgrund sind, sind Errungenschaften des Kampfes von Thomas Grossmann und seinen Mitstreitern.
Stonewall-Aufstand wird zum Katalysator einer Bewegung
Begonnen hat es mit dem Stonewall-Aufstand in New York. Am 28. Juni 1969 widersetzten sich die Besucher der Bar Stonewall Inn in der Christopher Street einer Polizeirazzia gegen Schwule und Dragqueens. Auch in den folgenden Nächten kam es zu Auseinandersetzungen – sie wurden zum Katalysator einer politischen Bewegung. Kurz darauf gründete sich die GLF, die “Gay Libation Front”, die dafür eintrat, dass Schwule und Lesben sichtbar sein sollten: die Voraussetzung für viele spätere Veränderungen in der Gesellschaft.
Initialzündung in Deutschland durch Rosa von Praunheim
Als Initialzündung der deutschen Schwulenbewegung gilt der Film von Rosa von Praunheim “Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt“. Der Film wurde bei den Berliner Filmfestspielen 1971 uraufgeführt. Thomas Grossmann sah ihn in einem Hamburger Programmkino – und auch für ihn wurde er zum Ausgangspunkt seines Engagements: “Das ist ja genau diese Haltung, die bei mir auch entstanden war: Also nicht ich bin pervers, sondern das ist pervers, dass die Gesellschaft sagt: ‘Deine Liebe, deine Sehnsucht, die du hast, die ist nicht in Ordnung. Die muss bestraft, die muss verhindert werden.'”
Zwar schien Thomas Grossmann die Darstellung schwulen Lebens in dem Film mit manieriertem Verhalten, Lederszene mit nächtlichen Treffen in Parks und auf Toiletten zu klischeehaft und weit weg von seiner eigenen Realität. Dennoch fand er die Botschaft wichtig, die Rosa von Praunheim mit dem Film vermitteln wollte: dass die Homosexuellen in die Öffentlichkeit gehen und sich selbst dafür engagierten müssten, dass sich ihre Situation verbessert.
§ 175-Reform: Homosexualität seit 1969 nicht mehr strafbar
Seit der Überarbeitung des § 175 bei der Strafrechtsreform 1969 war Sex unter erwachsenen Männern nicht mehr strafbar. Homosexualität war damit aber noch lange nicht als normale sexuelle Identität anerkannt, sondern wurde von den meisten als “Abweichung” von der “Norm” Heterosexualität betrachtet. Vor allem berufstätige Männer sahen sich oft gezwungen, in einer Doppelrolle zu leben. “Ich bin dort, wo ich tätig bin, sehr bekannt, und ich muss schon sehr viele Rücksichten nehmen.” Oder: “Ich würde wahrscheinlich Schwierigkeiten mit meinen Kollegen bekommen. Sie würden das vermutlich nicht respektieren.” So die Aussagen von Betroffenen aus einem Rundfunk-Feature über Schwules Leben Anfang der 70er-Jahre.
“Ich bin schwul und für mich ist das was Positives”
Ab 1972 gründeten sich in vielen deutschen Großstädten und Universitätsstädten schwule Aktionsgruppen, in Hamburg die “Homosexuelle Aktion Hamburg”. Sie engagierten sich zum Beispiel für die völlige Abschaffung des § 175. Und veränderten auch das Sprechen über Homosexualität. “Ich kenne Leute, die damals von ‘verzaubert’ geredet haben. Und was weiß ich. Also lauter so verbrämte Dinge, um bloß nicht auszusprechen, um was es geht”, erinnert sich Thomas Grossmann. Er und seine Freunde wählten das Wort, mit dem sie bisher verächtlich gemacht worden waren und schafften es, ihm den Charakter des Schimpfworts zu nehmen: schwul. “Ja, ich bin schwul und für mich ist das was Positives.”
Nach dem “Tuntenstreit” zersplittert die Szene
Innerhalb der Schwulenbewegung gab es allerdings unterschiedliche Vorstellungen darüber, in welcher Form man für seine Rechte kämpfen solle – und ob man mit Provokationen Solidarisierung verhindert oder ob umgekehrt “normales” Auftreten nicht ein unangemessen angepasstes Verhalten gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft sei. Bei der Abschluss-Demonstration eines Pfingsttreffens in West-Berlin 1973 kam es dann zum sogenannten Tuntenstreit. Thomas Grossmann hat diesen Streit miterlebt um die Frage, ob man bei der Demonstration in Frauenkleidern auftreten solle oder nicht: “Ich fand eigentlich beide Positionen immer wichtig – ich hatte nur keine Lust, mir deshalb einen Fummel anziehen zu müssen. Ich habe gesagt: Ich trage sonst auch keinen Fummel, warum soll ich ihn jetzt auf einer Demo tragen?” Die Schwulenszene zersplitterte sich.
Die Regenbogenflagge wird zum globalen Symbol
Thomas Grossmann engagierte sich weiter, zum Beispiel beim ersten schwulen Kommunikationszentrum in Hamburg. 1975 wurde eine Zeitung der Schwulenbewegung mit dem Titel “rosa” gegründet – in Anlehnung an den “Rosa Winkel”, mit dem Homosexuelle in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus gekennzeichnet wurden. Bundesweit entstanden ab Mitte der 70er-Jahre Schwulen-Projekte: Selbsthilfegruppen, Schwulen-Cafés, 1978 der erste schwule Buchladen “Prinz Eisenherz” in Berlin.
Eine große Rolle spielten die Schwulenverbände in den 80er-Jahren bei der Aids-Hilfe. Ab 1979 gab es die ersten Demonstrationen zum Christopher-Street-Day in der Bundesrepublik. Die Regenbogenflagge, die heute alle mit LGBT*IQ verbinden, wurde 1978 in den USA entworfen und hat sich schnell zum internationalen schwul-lesbischen Symbol entwickelt. In Deutschland setzte sie sich als solches allerdings erst in den 90er-Jahren durch.
Vom Lebenspartnerschaftsgesetz zur “Ehe für alle”
Der § 175 verschwand erst 1994, einige Jahre nach der Wiedervereinigung, aus dem deutschen Strafrecht. Und während Schwule und Lesben in den 70er-Jahren noch weitgehend getrennt für ihre Rechte eingetreten waren, kämpfte der “Lesben- und Schwulenverband” ab 1999 für gemeinsame Interessen wie die Homo-Ehe und den Abbau von Diskriminierungen in der Gesellschaft. 2017 wurde die “Ehe für alle” in Deutschland eingeführt.
“Wir waren wirklich die ersten”
Thomas Grossmann sagt, entscheidend sei, was die Schwulenbewegung erreicht habe – nicht, wie lange es gedauert hat. “Gesellschaftliche Veränderungen gehen nicht so schnell. Davon war ich immer überzeugt.” Und zurückblickend auf die 70er-Jahre: “Es war unglaublich spannend, denn wir waren wirklich die ersten, die gesagt haben: Wir wollen was verändern. Und wenn es noch so lange dauert. Aber wir wollen das einfach nicht mehr hinnehmen.”