Nicht nur Deutschland hat seine Streitkräfte zu ertüchtigen und neu zu konfigurieren, auch Frankreichs Armee muss mit einer Zeitenwende umgehen. „Was den strategischen Bruch betrifft, durchlaufen die französischen Streitkräfte eine Phase, die jener zum Ende des 19. Jahrhunderts ähnelt“, so Oberst Frédéric Jordan bei seiner Befragung vor dem Verteidigungsausschuss des Parlaments Ende vergangenen Jahres. Der Generalsekretär des Doktrin-Zentrums der Landstreitkräfte CDEC: „Damals war die Armee in Expeditionsmissionen wie in Mexiko und Italien eingebunden, ohne dass sich unser Land der wachsenden Bedrohungen bewusst wurde, die zum Krieg von 1870 und zum 1. Weltkrieg führten.“ So versäumten es die damaligen Militärplaner, die Lehren aus dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 zu ziehen, was den Einsatz von Maschinengewehren, Artillerie und den Grabenkrieg anbelangt.
Wertet man jüngste Parlamentsbefragungen von Frankreichs Militärplanern und Verteidigungsminister Sebastien Lecornu aus, zeigt sich, was den Franzosen bei der Gestaltung ihres künftigen Armeemodells wichtig ist, samt fundamentaler Unterschiede zu Deutschland.
Keine Refokussierung LV/BV
Hierzulande ist ein kampfstarkes Feldheer für die Ostflanke spätestens seit dem offenen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine klarer Fixpunkt der Wehrplanung. Nicht so in Frankreich. „Der Krieg in der Ukraine ist nicht das Alpha und Omega des Engagements der französischen Armee in den nächsten Jahrzehnten“, so General Vincent Breton – Direktor des Doktrin-Zentrums der Streitkräfte CICDE. Im Kontext seiner Ausführungen wird deutlich, dass Frankreich bei den Landstreitkräften auf einen Koalitionsbeitrag für NATO/EU im Sinne eines „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ abzielt, um Ressourcen für die strategische Ebene zu erhalten, wie den Status als Atomwaffen-Staat und die weite Geografie, wie die Besitzungen im Indopazifik.
Aufseiten der Bundeswehr wird unter dem „Refokussierungs“-Mantra ein Bruch von Auslandseinsätzen zur Landes- und Bündnisverteidigung betont. Die Franzosen sehen hier Übergänge. So seien die Kämpfe der Anti-IS-Operation Chammal von ähnlicher Natur gewesen wie jene in der Ukraine. Als Beispiel wird das Unternehmen der irakischen Armee zur Rückeroberung Mossuls genannt, die Frankreichs Chammal-Taskforce Wagram flankierte. Der Kampf um den urbanen Raum wurde mit massivem Artillerie- und Raketenfeuer geführt, samt Grabenkämpfen sowie dem Einsatz von Drohnen, die teils bewaffnet wurden. Die Iraker verloren 5000 Mann.
Strategische Fähigkeiten stehen im Vordergrund
Auch eine klare Abgrenzung von atomarer Bewaffnung zur konventionellen, wie es der deutschen Denke zur nuklearen Teilhabe entspricht, ist den französischen Militärplanern fremd. Im Gegenteil: Die strategischen Fähigkeiten zum Atomwaffen-Einsatz seien gleichzeitig ein Kraftverstärker für den taktischen Einsatz konventioneller Fähigkeiten. Als Beispiel nennt General Breton die Operation Hamilton 2018. Frankreichs Luftwaffe flog damals Angriffe unter anderem vom Flugzeugträger Charles de Gaulle im Mittelmeer aus, gegen Assads Chemiewaffen-Arsenal in Syrien. „Diese Art von Operation, die eine Projektionsfähigkeit über große Entfernungen voraussetzt, wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht über eine nukleare Luftwaffe verfügt hätten. Die Nuklearwaffe zieht unser Armeemodell nach oben.“ Eine zentrale Erkenntnis aus dem Ukraine-Krieg mit Blick auf Russland sei, dass die Russen, sobald sie die Initiative auf taktischer Ebene verlieren, auf der strategischen Ebene zur Eskalation übergehen.
Die Weltraumrüstung, bei der Bundeswehr defensiv auf Beobachten und Warnen ausgerichtet, hat für Frankreichs Streitkräfte eine größere Bedeutung, da sie auch Offensiv-Operationen erfasst. Hierfür nennt Oberst Romain Desjars de Keranrouë, der für die Luft- & Weltraumstreitkräfte befragt wurde, erneut die Operation Hamilton als Beispiel. Die französischen Angriffe wurden nach den Überflugzeiten der eigenen Aufklärungssatelliten getaktet, um im Vorfeld über aktuelle und präzisere Informationen zur Wirkung der Bombardements zu verfügen.
Mit Blick auf die Bedeutung der Panzerwaffe gibt es dagegen Übereinstimmung zur Sichtweise der Bundeswehr. „Der Panzer bleibt ein Trumpf, vorausgesetzt, er wird bei einem Gefecht im Verbund mit den anderen Waffengattungen eingesetzt“, so Oberst Frédéric Jordan für das französische Heer. Dies hätten die Ukrainer vor allem bei ihrer erfolgreichen Herbstoffensive 2022 bei Lyman gezeigt. Für diesen Gegenangriff setzte die ukrainische Armee große gepanzerte und mechanisierte Verbände ein, bis hin zu Brigaden. Indem sie ihr Feuer konzentrierten, manchmal in einem Verhältnis von sieben zu eins, konnten sie das russische Kräftedispositiv durchbrechen und die Tiefe des Raums ausnutzen.
Frankreichs Ostflanke ist der Indopazifik
Der Ukraine-Krieg ist in der französischen Perzeption kein umfassender Gestaltungsfaktor für eine militärische Zeitenwende wie im deutschen Narrativ, sondern Bezugspunkt für taktische Anpassungen am Grand Design der Streitkräfte. Das wird noch deutlicher an den Ausführungen von Verteidigungsminister Sebastien Lecornu zur künftigen Armee. Hier spielt der Ukraine-Krieg nur als Weckruf für die Auffrischung der Munitionsreserven eine Rolle. Aus dem Kriegverslauf leiten die Franzosen das Vorhaben ab, ihre Armee bis Ende der Dekade massiv mit Tausenden von Kamikazedrohnen nachzurüsten.
Lecornu beschwört in seiner Befragung Ende im Januar vor dem Verteidigungsausschuss ein „umfassendes Armeemodell“, dessen Schwerpunkt und Investitionen auf dem Erhalt strategischer Fähigkeiten und der Beherrschung neuer Technologien liegt, nicht auf der Aufstellung durchhaltefähiger Großverbände. Lecornu betont Atomwaffen, Weltraum und Cyberspace. Deutlich wird auch: Frankreich sieht den Indopazifik als seine wahre Ostflanke. In Asien verfügt es über seine Inselterritorien über die größte Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) weltweit. „Es geht darum, die überseeischen Gebiete in taktischer und logistischer Hinsicht näher an Frankreich heranzuführen. Für jedes Gebiet werden wir eine spezifische Strategie entwickeln“.
Gaullistische Konzepte
Frankreichs Verteidigungsminister sieht das neue Planungsgesetz bis 2030 als Ausdruck einer nüchternen Bedrohungsanalyse in Tradition der Gaullisten in den 1960er-Jahren. Deren Leitfragen: Welche Risiken können wir abdecken, welche nicht? Was können wir allein, was nur gemeinsam? Lecornu: „Einige hätten ein Weißbuch vorgezogen; aber ich bin der Meinung, dass es bisher eher ein Instrument war, um Haushaltskürzungen zu verschleiern oder einem neuen Staatspräsidenten Zeit zu verschaffen, um einige strategische Orientierungspunkte festzulegen.“
Auch bei Rüstung und deren Export setzt er auf die tradierte gaullistische Vorgehensweise. „Der Kauf von der Stange im Ausland muss wirklich die Ausnahme bleiben.“ Dabei soll die französische Wehrindustrie selbst weiterhin Von-der-Stange-Designs für den Export im Repertoire haben. Als Beispiel nennt Lecornu die Godwind-Korvette. Zur weiteren Strategie des Rüstungsexports äußert Lecornu deutlich: „Seit den 1960er-Jahren beruht unsere rüstungstechnologische Basis auf Exporterfolgen. Also auf Know-how, das ausstrahlt und Arbeitsplätze und Wohlstand schafft. Es ist auch eine Unterstützung für unsere Diplomatie. Ich habe Indien, Indonesien und die Vereinigten Arabischen Emirate besucht: Unsere Diplomatie der blockfreien Verbündeten schafft im indopazifischen Raum ein tiefes Interesse, die es uns ermöglichen wird, unser Wirtschaftsmodell zu stabilisieren.“