In den festgefahrenen Brexit-Verhandlungen geht die Europäische Union offenbar einen Schritt auf Großbritannien zu. Wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” (FAZ) berichtet, hat Brüssel der Regierung in London eine längere Übergangsfrist nach dem offiziellen Austrittsdatum vorgeschlagen.
Die FAZ zitiert aus einem internen Bericht der Bundesregierung über die am Sonntag vorläufig abgebrochenen Brexit-Verhandlungen. Darin heißt es: “Die Kommission habe den Versuch unternommen, Großbritannien möglichst weit entgegen zu kommen, etwa indem sie eine Verlängerung der Übergangsperiode ins Spiel gebracht habe.”
Bislang soll Großbritannien nach dem EU-Austritt am 29. März 2019 ein Verbleib in Zollunion und Binnenmarkt bis Ende 2020 eingeräumt werden. Die Phase soll beiden Seiten dazu dienen, die künftigen Beziehungen zu ordnen. Diese Periode des Übergangs könnte nun ausgedehnt werden.
Knackpunkt ist die Grenze in Irland
Zuletzt standen die Verhandlungen über einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der EU auf der Kippe. Am Sonntag scheiterte eine Einigung über die künftige Regelung an der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Einen Tag später warf May im britischen Parlament der EU vor, sie riskiere mit ihrer derzeitigen harten Haltung einen chaotischen Brexit.
Vor dem am Mittwoch beginnenden EU-Gipfel zum Brexit sagte Ratspräsident Donald Tusk, das Szenario eines harten Ausstiegs sei “wahrscheinlicher als jemals zuvor”. Auf solch ein Szenario müsse man sich vorbereiten, betonte er am Dienstag ebenso wie zahlreiche Politiker aus EU-Staaten. Der von EU-Unterhändler Michel Barnier vorgestellte Fortschrittsbericht und die Parlamentsdebatte in Großbritannien am Montag gäben “keinen Grund zum Optimismus”.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete nach Angaben aus Kreisen der Unionsfraktion die Brexitverhandlungen am Dienstag als “Quadratur des Kreises”. Tusk sprach von einem “Gordischen Knoten”. Leider sei derzeit kein Alexander in Sicht, sagte Tusk in Anspielung auf Alexander den Großen, der der Legende nach den unentwirrbaren Knoten mit seinem Schwert durchschlug. Für einen Durchbruch bräuchte man nicht nur guten Willen, sondern auch Fakten, sagte Tusk.
Wie stark ist Mays Rückhalt?
Für den anstehenden Verhandlungspoker in Brüssel brachten beide Seiten am Dienstag ihre Truppen in Stellung. May beschwor nach den Worten ihres Sprechers die Einheit ihrer Ministerriege. Wenn das Kabinett geschlossen hinter ihr stehe, sehe sie eine Chance für ein Brexit-Abkommen. Der Sprecher betonte, dass ranghohe Minister May unterstützten. Es gebe auch keine Rücktrittsdrohungen. May habe zugleich auch deutlich gemacht, dass kein Abkommen besser sei als ein schlechtes Abkommen. Und ein schlechtes Abkommen sei eines, das zu einem Bruch im Vereinigten Königreich führe.
Allerdings beißt May mit ihren Forderungen zu Irland in der EU auf Granit. Zugleich hat sie innenpolitisch extrem wenig Handlungsspielraum. Kategorische Brexit-Befürworter in der eigenen Partei lehnen eine dauerhafte Anlehnung an die EU ab, mit der May die irische Grenzfrage lösen will. Die nordirische Partei DUP, auf deren Stimmen May im Parlament angewiesen ist, blockiert wiederum Kompromissvorschläge der EU. Diese will Nordirland notfalls faktisch in einer Zollunion und im EU-Binnenmarkt halten, damit die EU-Grenze auf der Insel offen bleiben kann. Diesen Sonderstatus lehnt die DUP ab.
In dieser Gemengelage versuchte May am Dienstag, ihr Kabinett auf Linie zu bringen. Medienberichten zufolge formiert sich in den Reihen ihrer Minister Widerstand gegen weitere Zugeständnisse an die EU, darunter ist auch Brexit-Minister Dominic Raab.
Berlin: Front der EU wird halten
Ein deutscher Regierungsvertreter äußerte sich überzeugt, dass in der heißen Phase der Verhandlungen die geschlossene Front der EU gegenüber Großbritannien nicht bröckeln werde. Diese Einigkeit sei auch im britischen Interesse, weil sie für das Tempo der Verhandlungen wichtig sei.
Die nächste Weichenstellung findet am Mittwoch und Donnerstag statt. Dann werden die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Staaten in Brüssel darüber befinden, ob der jetzige Stand der Gespräche zwischen London und Brüssel ausreicht, um wie geplant einen Sondergipfel im November anzusetzen. Falls wegen des Streits die Einigung erst im Dezember zustande komme, könnte es zeitlich sehr eng werden, das Vorhaben durch das britische Parlament zu bekommen, sagte ein EU-Vertreter.
Inzwischen bauen die europäischen Hauptstädte für den Extremfall vor: den ungeordneten Brexit. Die Bundesregierung sei auf alle Möglichkeiten, also auch einen ungeordneten Brexit, vorbereitet, sagte ein Regierungsvertreter in Berlin und fügte hinzu: “Ein Teil der Vorbereitungen ist schon unterwegs.” Dazu gehörten etwa Gesetze, die mit dem Brexit in Kraft treten, und Maßnahmen auf Behördenebene wie etwa die Vorbereitung auf die Einstellung von Zöllnern.